Too Gust to fail
Die ÖVP wird diese Schmach nie mehr los. Einen lupenreinen parteipolitischen Postenschacher acht Jahre lang leugnen, ihn auf der Anklagebank zugeben, um einer Verurteilung zu entkommen – und dann damit so umgehen, wie die Partei samt ihrem “Ethikrat” das getan hat: Das zeigt, wie zerfressen die ÖVP von ihren bald vierzig Jahren Regierungsverantwortung ist. Macht korrumpiert, und August Wöginger hat das in die Auslage gestellt. SPÖ und NEOS schauen weg, was nicht weniger empörend ist. Sie sehen den Koalitionsfrieden in Gefahr, denn Wöginger ist quasi too Gust to fail. Dabei geht es längst nicht mehr nur um den Frieden, sondern um die Koalition selbst.
In den Oberösterreichischen Nachrichten wird das Schweigen von Rot und Pink so erklärt: Wöginger sei für das Funktionieren des Dreierbündnisses lebenswichtig, heißt es bei SP und NEOS, daher werde man einem Vorfall aus dem Jahr 2017 nicht zu viel Gewicht geben. Günter Traxler hat diese Unverzichtbarkeit des Wöginger im Standard unterstrichen und unnachahmlich so auf den Punkt gebracht: Nachdem der Ethikrat der Volkspartei die juristische Arschknappheit seiner Diversion zum politischen Persilschein summa cum laude gewandelt hat, bleibt er als dauernder Stachel der Erinnerung im Hohen Haus unersetzlich.
Die Weglegung des Postenschachers
Wöginger hat ja Verantwortung für seine Mitwirkung am Postenschacher um das Finanzamt Braunau übernommen und dabei die zentralen Sätze gesagt: Ich habe das in dieser Dimension nicht vorhergesehen. Mit dem heutigen Wissen würde ich es in dieser Form nicht mehr machen. Christoph Kotanko dazu trocken: Dass er die Tragweite seines Handelns nicht erkannt habe, glaubt man ihm nicht einmal im heimatlichen Sigharting. Und Anneliese Rohrer ätzt in der Presse: Das setzt den Grundsatz “Unwissenheit schützt vor Strafe nicht” völlig außer Kraft, was nicht nur für Politiker neue Verteidigungsstrategien eröffnet. Sich auf einen honest mistake zu berufen, wie man ihn im Angelsächsischen kenne, das sei ein starkes Stück für einen Spitzenpolitiker wie Wöginger mit jahrzehntelanger Erfahrung.

Dass die ÖVP vom Parteiobmann und Kanzler Christian Stocker abwärts das alles deckt und mit hanebüchenen Erklärungen des Ethikrat-Mitglieds Werner Fasslabend sowie einer manipulativen schriftlichen Stellungnahme der Vorsitzenden Waltraud Klasnic vom Tisch wischen will, macht es zu einem Problem dieser Koalition. Hans Rauscher kommentiert gnadenlos: Diese ÖVP ist verrottet bis ins Mark. Sie ist eine selbstgefällige, moralisch völlig unempfindliche, dummschlaue Institution geworden, die uns übelsten Protektionismus als “Bürgerservice” verkaufen will. Die Volkspartei ist personell ausgelaugt, ihre sogenannten Hoffnungsträger und -trägerinnen sind keine. Zurücklehnen, intensiv nachdenken, Abschied nehmen von einer Reihe von Funktionären und Strukturen, die ohnehin nicht mehr leben. Das hat der verstorbene Erhard Busek der Wiener ÖVP einmal geraten.
Der einzig unersetzbare ÖVP-Klubchef
Die Stocker-ÖVP ist allerdings Kanzlerpartei. Der ideologischen Getriebenheit des Herbert Kickl und seinen Systemwechsel-Fantasien hat sie zu verdanken, dass sie immer noch über die Insignien der Macht verfügt und keine Zeit hat, um über Funktionäre und Strukturen zu reflektieren. August Wöginger ist der Anker dieser Macht: Von Sebastian Kurz in der Koalition mit der Strache-FPÖ zum Klubobmann gemacht, ist er das während Schwarz-Grün und bis heute geblieben. Einer, der das politische Handwerk versteht und gut mit allen kann.
An so einem statuiert man kein Exempel, einzig die Finanzprokuratur prüft eine Schadenersatz-Forderung gegen ihn. Dabei steht Wöginger für genau das, was sich jetzt auch in der Dreierkonstellation abzuzeichnen beginnt: Eine eiserne Koalitionsdisziplin, in der die ÖVP den Ton angibt. Und die anderen sind schon froh, wenn die Regierungsarbeit ohne öffentlichen Streit über die Bühne geht. Das mag nach dem blau-schwarzen Schock zu Jahresbeginn genügt haben, aber auf Dauer ist das zu wenig. SPÖ-Finanzminister Markus Marterbauer hat es im Talk Das Gespräch so beschrieben: Wir kommen Schritt für Schritt voran, das wirkt vielleicht ein bisserl langweilig. Wir zünden nicht jeden Tag ein Feuerwerk. Und wenn, dann zündet SPÖ-Chef Vizekanzler Andreas Babler über die Medien einen Rohrkrepierer – wie bei der Mehrwertsteuer-Senkung auf Lebensmittel.
Die armselige Reaktion von Rot & Pink
Der SPÖ-Vorsitzende versucht es mit Populismus, während der Finanzminister das Budget saniert, das die ÖVP ihm schwer ramponiert hinterlassen hat. Sein Vorgänger Magnus Brunner ist mit dem Posten des EU-Kommissars belohnt worden, Ex-Kanzler Karl Nehammer – der mit seiner Kuchen-Theorie im Wahlkampf wohl wissentlich danebengelegen ist und im aktuellen Krone-Interview jede Verantwortung Mit dem Satz Da muss man die Gesamtsicht wahren vom Tisch wischt – freut sich über eine fürstliche Gage als Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank. Das wurde im Hinterzimmer vereinbart, der zuständige Finanzminister Marterbauer musste es ebenso schlucken wie die NEOS, die so viel schlucken, dass eine ihrer profiliertesten Abgeordneten das Handtuch wirft. Stephanie Krispers Abgang könnte man abtun mit dem Spruch: If you can’t stand the heat, get out of the kitchen. Aber es ist mehr.
Der Abgang und das passende Muster
Krispers Abgang passt in das Muster: Alle müssen sich in der Dreierkoalition verbiegen, nur die ÖVP nicht. Im Fall der NEOS-Abgeordneten sind es Messenger-Überwachung, Stopp des Familiennachzugs und Kopftuch-Verbot. Bei der SPÖ sind es die Maßnahmen zur Budgetsanierung: Pensionistinnen und Öffentlicher Dienst müssen herhalten, Vermögende wie die Familie Dichand bekommen über deren Sprachrohr Kronenzeitung die Botschaft: Klare Absage des Kanzlers an Erbschaftssteuern. Der engste Kommunikationsberater von ÖVP-Obmann Stocker, Gerald Fleischmann, arbeitet künftig für dieses Boulevardblatt und bleibt enger Mitarbeiter des Kanzlers. SPÖ und NEOS schäumen, aber sie nehmen hin, dass Fleischmann weiter in den innersten Koalitionszirkeln mit am Tisch sitzt.
Diskussionsverbote und letzte Chancen
So wie die Koalitionspartner hingenommen haben, dass es Diskussionsverbote über wichtige Fragen gibt. Darunter die Neutralität, die uns sicherheitspolitisch um die Ohren fliegt – aber auch die Grundsteuer, die eine wichtige Einnahmenquelle für die finanzmaroden Gemeinden wäre, von denen einige am Rande des Konkurses stehen. Seit Jahrzehnten nicht an die gestiegenen Bodenwerte angepasst, ebenso lang werden Reformmodelle diskutiert, die ÖVP-Bürgermeister rufen laut nach einer Erhöhung. Aber die ÖVP in der Bundesregierung sagt: njet. Soll doch der Marterbauer schauen, wie er die Gemeinden auf den Budget-Sparkurs bringt. Dieser Markus Marterbauer hat im ORF-Talk mit Susanne Schnabl auch gesagt: Wir wissen, dass das die letzte Chance ist. Fraglich, ob das wirklich alle in der Koalition wissen.